Was sind aggressive Zwangsgedanken?
Aggressive Zwangsgedanken sind aufdringliche, wiederkehrende Gedanken, Vorstellungen oder Impulse mit gewalttätigen Inhalten. Betroffene haben keine Intention, diese Gewaltfantasien in die Tat umzusetzen, weshalb sie – zumeist erfolglos – versuchen, sich gegen diese Gedanken zu Wehr zu setzen. Weil die Gedanken trotz dessen im Verlauf der Erkrankung immer häufiger und intensiver auftreten, hinterlassen sie eine hohe Anspannung und werden als bedrohlich empfunden.
Die meisten aggressiven Zwangsgedanken handeln davon, sich selbst oder anderen Schaden zuzufügen. Mittelpunkt dieser Vorstellungen sind häufig unschuldige, hilflose oder geliebte Personen, denen man niemals etwas zuleide tun würde. Gerade aus diesem Grund wirken aggressive Gedanken auf einen so bedrohlich: Sie sind mit den eigenen Werten und Lebenszielen völlig unvereinbar – und man stellt sich die Frage, wieso man gerade von diesen Gedanken heimgesucht wird.
Welche Symptome treten auf?
Aggressive Zwangsgedanken können jeden erdenklichen Inhalt haben. Zu den häufigen aggressiven Zwangsgedanken, Impulsen und Vorstellungen zählen folgende:
- Die Angst, andere verletzen, sie umzubringen oder ihnen schaden
- Spontane Bilder mit gewalttätigen Inhalten
- Die Angst, jemanden vergiften zu können (beispielsweise mit Haushaltsmitteln)
- Die Angst, die Kontrolle zu verlieren und seinen Partner mit dem Messer zu erstechen
- Der Impuls, jemanden anzugreifen
- Die Angst, dass man sich selbst verletzen oder umbringen könnte
- Die Vorstellung, sich selbst von einem Hochhaus stürzen zu wollen
- Die Angst, jemandem mit einem schlechten Ratschlag nachhaltig zu schaden
- Die Sorge, dem eigenen Kind/Baby absichtlich oder versehentlich Gewalt anzutun
- Die Befürchtung, auf jemanden grundlos loszugehen und ihn zu schlagen
- Die Angst, jemanden aus Versehen mit einem Gerät oder einer Maschine zu verletzen
- Die Befürchtung, etwas stehlen zu können
- Die Angst davor, jemanden grundlos zu beleidigen
- Die Sorge, einen Autounfall zu verursachen oder unbemerkt verursacht zu haben
- Die Befürchtung, verrückt zu werden und anderen gewalttätig zu schaden
- Die Angst, die Kontrolle zu verlieren und jemandem Schaden zufügen, den man liebt
- Der Gedanke, man könnte beim Autofahren durchdrehen und absichtlich in eine Menschenmenge fahren
- Die Befürchtung, auf einmal laut loszubrüllen oder jemanden grundlos anzuschreien
- Die Angst, jemandem unbewusst oder im Schlaf Schaden zuzufügen
- Ungewollte Wünsche (z.B.: „Ich wünschte, mein Kind wäre tot“)
Mögliche Ursachen von (aggressiven) Zwangsgedanken?
Vielleicht fragt man sich, wieso man unter aggressiven Zwangsgedanken leidet. Dafür gibt es verschiedene Gründe.
Biologische Faktoren
Es gibt Hinweise darauf, dass Betroffene von Zwängen eine genetische Veranlagung für das Ausbilden von Zwangssymptomen haben. Diese genetische Veranlagung heißt nicht zwangsläufig, dass man eine Zwangsstörung entwickelt, aber sie macht sie wahrscheinlicher. Diese Veranlagung kann sich beispielsweise durch eine geringere Toleranz von Ungewissheit äußern: Die Schwelle bis sich ein Gefühl für Gewissheit oder Vollständigkeit einstellt, liegt bei einen höher als bei anderen Menschen.
Bei Menschen mit Zwangsstörungen kann man außerdem mithilfe von Gehirnscans eine Überaktivität bestimmter Regionen feststellen. Die gute Nachricht: Diese Überaktivität ist nicht permanent, sondern kann durch die später vorgestellten Tipps der Kognitiven Verhaltenstherapie dauerhaft abgebaut werden. Weiterhin scheint der Botenstoff Serotonin eine Rolle zu spielen. Dadurch kann erklärt werden, dass auch eine medikamentöse Behandlung mithilfe von SSRIs positive Effekte hat.
Psychologische Faktoren und Lernerfahrungen
Entscheidend für die Entwicklung sind auch psychologische Faktoren wie individuelle Persönlichkeitsmerkmale, die Erziehung der Eltern, prägende Lebensereignisse, Lernerfahrungen und Lebensumstände. Beispielsweise können zu hohe Leistungserwartung oder zu hohe moralische Standards seitens der Eltern internalisiert und zu eigen gemacht haben. Vielleicht ist der Zwang auch erst bei einem prägendem Lebensereignis oder bei anderen belastenden Lebensumständen ausgebrochen.
In der Regel führt die Kombination aus biologischen und psychologischen Faktoren zum Ausbruch einer Zwangserkrankung. Was aber auch immer die Entstehungsgründe für den Zwang waren – man hat sich diese Erkrankung nicht ausgesucht. Sie ist daher weder das Ergebnis eines schwachen Charakters noch trifft eine Schuld daran.
Welche Folgen können aggressive Zwangsgedanken hervorrufen?
Aggressive Zwangsgedanken lösen bei einen Anspannung aus, weil sich hinter ihnen zumeist konkrete Befürchtungen verbergen. Zu den typischen Befürchtungen hinter aggressiven Zwangsgedanken gehören:
- Die Befürchtung, dass die Gedanken niemals aufhören werden
- Die Befürchtung, dass die Gedanken bedeuten, dass man eine furchtbare oder unmoralische Person ist
- Die Befürchtung, dass die Gedanken in die Tat umgesetzt werden kann
- Die Befürchtung, diese Gedanken in der Vergangenheit bereits unbemerkt ausgeführt zu haben
Wie bei anderen Zwängen spielt auch bei aggressiven Zwangsgedanken die Angst vor Ungewissheit eine zentrale Rolle: Man fühlt sich nicht in der Lage, die genannten Befürchtungen mit Sicherheit kontrollieren zu können. Dieser Kontrollverlust löst Angst und Anspannung aus, die man erfolglos versucht, mit Zwangshandlungen, Vermeidungen und Absicherungsstrategien aufzulösen.
Wie werden aggressive Zwangsgedanken aufrechterhalten?
Es gibt verschiedene Gründe, warum ein Zwang trotz der hohen “ Kosten“ und des Leidens, die er jeden Tag verursacht, ein so hartnäckiger Begleiter werden kann. Ein Grund besteht darin, dass möglicherweise die Faktoren, die zur Entstehung des Zwanges geführt haben, weiterhin bestehen. Ganz entscheidend dafür, dass eine Zwangsstörung aufrechterhalten wird, ist ein sich selbst verstärkender Teufelskreis der Zwangsstörung.
Der Teufelskreis der Zwangsstörung:
Treten Zwangsgedanken auf, die einen aggressiven oder sexuellen Inhalt haben (oder einen sonstigen Inhalt, der Schuldgefühle hervorruft), sieht der Teufelskreis meist folgendermaßen aus: Ein aggressiver Gedanke (z.B. „Ich könnte meiner Freundin etwas antun.“) wird als gefährlich interpretiert. Der*die Betroffene hält diesen Gedanken für zutreffend („Der Gedanke könnte wahr werden, ich könnte das tatsächlich tun.“). Als Folge versucht der*die Betroffene, diesen Gedanken zu vermeiden („Bloß nicht daran denken, wer weiß, ob ich das sonst tue.“) oder durch „Gegengedanken“ zu „neutralisieren“ („Schnell an etwas anderes denken“). Teilweise schließt sich hier ein gedankliches Ritual an (das kleine 1×1 aufsagen, ein Gedicht oder Gebet aufsagen, zählen..).
Als Folge dieser Gedankenkontrolle werden die Zwangsgedanken jedoch nicht weniger, sondern mehr. Das ist ganz ähnlich, als würde man versuchen, nicht an einen rosa Elefanten zu denken: in dem Moment, wo man dies mit aller Macht versucht, lässt einen der aufdringliche Gedanke gar nicht mehr los. Man denkt ständig wieder an den rosa Elefanten.
Hier ist der Teufelskreis der Zwangsgedanken noch einmal bildlich dargestellt:
Manchmal sind es auch scheinbar banale Faktoren, die ein Aufrechterhalten der Zwänge ermöglichen. Die Zwänge sind oft stärker, wenn man innerlich unter Anspannung steht, unter Zeitdruck ist, wenig geschlafen hat etc. Hier kann eine Protokollierung der Zwänge dazu dienen, ungünstige Lebensgewohnheiten zu identifizieren. Häufig hat eine psychische Störung, neben dem Leiden, das sie verursacht, „positive“ Nebeneffekte für die Betroffenen. Z.B. kann es sein, dass der Zwang dabei „hilft“, sich mit bestimmten schwierigen Situationen und Defiziten nicht auseinandersetzen zu müssen. In diesen Fällen spricht man von einer „Funktionalität“ des Zwanges. Vielleicht ist der Zwang erstmalig in einer Lebensphase aufgetreten, in welcher der*die Betroffene sich vermehrt gegen die Anforderungen der Mitmenschen abgrenzen musste. Wenn diese Abgrenzung schwer fällt, kann der Zwang die schwierige Aufgabe der Abgrenzung für den Erkrankten übernehmen.
Krankheitsverlauf von Zwangsgedanken
Wichtig ist, dass es zwar Gründe für die Entstehung des Zwangs gibt, diese aber für die Behandlung der Zwangsgedanken größtenteils irrelevant sind – ähnlich wie es für einen Raucher, der mit dem Rauchen aufhören möchte, irrelevant ist, wieso er mit dem Rauchen angefangen hat.
In dem Moment, in dem man zum ersten Mal mit aggressive Zwangsgedanken konfrontiert wird, fühlt man sich hilflos und versucht seine Gedanken loszuwerden, ihnen eine negative Bedeutung zuzuschreiben und sie zu kontrollieren. Paradoxerweise hat genau das erst dazu geführt, dass man seine Zwangserkrankung so richtig ausgebrochen ist und auch weiterhin aufrechterhalten wird.
Womöglich haben Sie bereits die Erfahrung gemacht, dass die oben genannten problematischen Bewältigungsstrategien (Zwangshandlungen, Vermeidungen, Absicherungsstrategien) Ihnen vielleicht kurzfristig Beruhigung verschafft haben, aber gleichzeitig dazu geführt haben, dass seine eigenen Zwangsgedanken und Anspannung langfristig immer stärker wurden. All die Bewältigungsversuche haben bisher nicht funktioniert, sondern das Gegenteil bewirkt: Je mehr man gegen seine Gedanken kämpft, desto stärker verbeißen sie sich. Das ist auch der Grund, weswegen Zwangsgedanken trotz aller Mühe und Anstrengung nicht einfach so verschwinden. Je mehr Energie man auf den Kampf gegen sie aufwendet, desto stärker kämpfen sie zurück.
Umgang mit aggressiven Zwangsgedanken
Bestimmt haben Sie festgestellt, dass der bisheriger Umgang mit seinen Zwangsgedanken nicht nur keine Linderung verschafft, sondern sie erstrecht verstärkt. Es gilt also, einen anderen Umgang mit seinen Zwangsgedanken zu entwickeln. Dabei gibt es nicht den einen geheimen Tipp, der einen automatisch von seinen Zwangsgedanken befreit. Wenn es den gäbe, dann wären Zwänge für die ca. 2 Millionen Betroffenen in Deutschland kein Problem und sehr einfach zu therapieren.
Stattdessen geht es darum, einen neuen Umgang mit seinen Zwangsgedanken zu entwickeln, mit dem Sie lernen, Zwangsgedanken und alle ihre möglichen Bedeutungen zu akzeptieren, ohne mit ihnen zu interagieren. Denn wie oben gezeigt führt erst die Interaktion mit seinen Zwangsgedanken zu ihrer Aufrechterhaltung.
Es gibt verschiedene Methoden, die das Ziel haben, einen gesunden Umgang mit Zwangsgedanken mithilfe verschiedener Strategien und aus verschiedenen Blickwinkeln neu zu erlernen. Diese Strategien basieren auf der Kognitiven Verhaltenstherapie einschließlich Exposition Reaktionsverhinderung – der einzigen nachgewiesenen psychotherapeutischen Intervention bei der Behandlung von Zwängen.
Erkenne und korrigiere deine Fehlbewertungen
Im ersten Teil geht es darum, alle Fehlbewertungen aufzuspüren, die den Zwang am Leben halten und verstärken. Fehlbewertungen – oder auch kognitive Verzerrungen – sind falsche Glaubenssätze, die man in Bezug auf seine Zwangsgedanken hat. Die Aufdeckung und Korrektur dieser Fehlbewertungen hilft einen, seinen Zwang besser zu verstehen und bereitet einen darauf vor, sich später seinen Ängsten und Befürchtungen zu stellen. Die Zwänge geben einen keinen Halt, keine Sicherheit und ist ein Trugschluss für seine Comfortzone. Zwänge kontrollieren die Alltagsstruktur.
Hör auf, deine Gedanken zu stoppen oder zu kontrollieren
Unsere Gedanken sind Teil der menschlichen Kreativität und können nicht gestoppt oder kontrolliert werden. Studien zeigen, dass 90% aller Menschen die gleichen aggressiven oder perversen Gedanken haben wie Menschen mit Zwangserkrankungen. Der Unterschied ist, dass normale Menschen diesen Gedanken keine Bedeutung beimessen und sich daher von ihnen nicht irritieren lassen. Erst ihr aktives Kontrollieren, Steuern, Stoppen und Ersetzen von Gedanken macht sie zum Problem. Denn genau dieses Vorgehen führt dazu, dass diese Gedanken noch häufiger kommen (Spezialisten sprechen hier vom „Rebound-Effekt“ oder vom „Paradoxical Effort“). Und kommen die Gedanken noch häufiger, führt das wiederum zu der Fehlbewertung, dass die Gedanken wirklich etwas bedeuten könnten. Wie Sie sehen, beißt sich hier die Katze in den Schwanz.
Unsere Empfehlung: Nehmen Sie Ihre Gedanken so an wie sie sind und versuchen nicht, sie zu stoppen oder zu kontrollieren.
Erkennen Sie, dass ihre Aufmerksamkeit voreingenommen ist
Haben Sie schon mal ein neues Paar Schuhe gekauft und sich anschließend gewundert, wie viele Leute mit den gleichen Schuhen herumlaufen? Bestimmt haben Sie erkannt, dass nun nicht auf einmal mehr Leute als vorher diese Schuhe tragen – viel eher richtet sich nun ihre Aufmerksamkeit auf genau dieses Paar Schuhe. Genauso verhält es sich auch mit ihren Zwangsgedanken. Genauso wie Sie ihre Umgebung nach den gleichen Schuhen mustern, beobachten Sie in ihrem eigenen Gedankenstrom alle aggressiven Zwangsgedanken. Dass Sie ihre Zwangsgedanken so oft wahrnehmen, liegt also auch daran, dass Sie ihn genau unter der Lupe haben.
Meine Empfehlung: Erkenne, dass Sie ihre Zwangsgedanken auch deshalb häufiger auftreten, weil Sie sie sehr genau beobachten.
Das Denken ihrer Zwangsgedanken erhöht nicht die Wahrscheinlichkeit, dass Sie sie in die Tat umsetzen
Vielleicht haben Sie die Befürchtung, dass das Denken ihrer Zwangsgedanken die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Sie sie in die Tat umsetzen. An dieser Stelle kann ich Sie beruhigen: Diese Befürchtung hat keine Grundlage. Ein wichtiger Grundsatz der Psychologie und Kriminologie ist, dass der beste Schätzer für zukünftiges Verhalten eines Menschen sein vergangenes Verhalten ist. Menschen mit aggressiven Zwangsgedanken haben in der Regel auch in der Vergangenheit ihre Gedanken nicht in die Tat umgesetzt und Sie sind keine Ausnahme von diesem Grundsatz: Es gibt keine Hinweise darauf, dass Menschen mit aggressiven Zwangsgedanken vermehrt zu Gewalt neigen oder dass sie ihre Zwangsgedanken in die Tat umsetzen.
Unsere Empfehlung: Haben Sie keine Angst, ihre Gedanken zu denken, denn sie beeinflussen nicht die Realität.
Lernen Sie, Ungewissheit zu akzeptieren
Gewissheit ist ein Gefühl – kein Fakt. Bei Betroffenen von Zwangserkrankungen ist dieses Gefühl aus dem Gleichgewicht geraten. Nicht wissen zu können, was ihre aggressiven Zwangsgedanken nun wirklich bedeuten und ob Sie sie in die Tat umsetzen können, lässt Sie nicht zur Ruhe kommen. Und die damit einhergehende Angst und Anspannung versuchen Sie sich durch das Erreichen absoluter Gewissheit zu neutralisieren. Sie versuchen, mithilfe von Logik ihre Gefühle zu verändern – was nicht funktioniert. Es muss also ein anderer Ansatz her: Zu lernen, das Gefühl von Ungewissheit und Anspannung zu tolerieren – ohne etwas dagegen zu unternehmen. Ihr emotionales Verhältnis zur Ungewissheit normalisiert sich dadurch über die Zeit wieder von alleine.
Falls Sie glauben, ihre Intoleranz gegenüber der Ungewissheit, die aggressive Zwangsgedanken auslösen, sei gerechtfertigt, dann lass uns drei Gegenargumente anführen: 1. Nahezu alle normalen Menschen haben Gedanken aggressiver Natur – allerdings ist deren Gefühlswelt nicht gestört. Ohne es zu merken, fühlen sie mit Gewissheit, dass diese Gedanken für sie irrelevant sind und verspüren daher nicht den Drang, der Bedeutung dieser Gedanken nachzugehen. 2. Vermutlich hatten Sie bereits vor ihrer Zwangserkrankung wie fast jeder andere Mensch aggressive Vorstellungen – allerdings ohne die emotionale Reaktion. Es liegt also der Schluss nahe, dass ihre Intoleranz von Ungewissheit im Laufe ihrer Zwangserkrankung antrainiert wurde. 3. Ihre Zwangsgedanken beschränken sich vermutlich nur auf ein oder wenige Themen. Dabei steckt Ungewissheit in jedem Teil unseres Lebens. Wir fahren mit dem Auto zur Arbeit und könnten jederzeit dabei umkommen. Wir schlafen ruhig mit dem Gefühl, dass uns bei einem Feuer der Feuermelder früh genug wecken wird. Ihre Intoleranz von Ungewissheit in Bezug auf ihre aggressiven Gedanken erscheint in Anbetracht aller Unwägbarkeiten des Lebens daher irrational einseitig.
Uns geht es nun nicht darum, Sie mit logischen Argumenten zu überzeugen, dass ihre emotionale Reaktion auf ihre Zwangsgedanken keinen Sinn macht. Das wissen Sie vermutlich selbst. Vielmehr sollte es Ihnen darum gehen, zu erkennen, dass ihr eigenes Gefühl für Gewissheit zum aktuellen Zeitpunkt aus dem Gleichgewicht geraten ist und Sie sich nicht bedingungslos darauf verlassen sollten. Stattdessen sollte es ihr Ziel sein, das Gefühl von Anspannung und Ungewissheit tolerieren und akzeptieren zu können ohne Zwangshandlungen auszuführen. Dadurch wird sich auch ihr emotionales Verhältnis zur Ungewissheit wieder normalisieren.
Ungewissheit tolerieren zu lernen, ist eines der wichtigsten – aber auch schwierigsten – Ziele zur Überwindung ihres Zwangs. Falls ihnen dieser Schritt schwerfallen sollte, empfehle ich ihnen, einen Blick in die später genannten Selbsthilfebücher zu werfen oder dieses Ziel zusammen mit einem Therapeuten zu erarbeiten.
Meine Empfehlung: Hören Sie auf, sich alleine auf ihr Gefühl von Gewissheit zu verlassen und lernen Sie, Ungewissheit und die damit einhergehende Anspannung zu tolerieren, ohne sie zwanghaft zu neutralisieren.
Aggressive Zwangsgedanken machen Sie nicht zu einem schlechten Menschen
Vielleicht denken Sie, dass Sie ein schlechter Mensch sind, weil Sie unter solch abscheulichen Gedanken leiden. Vielleicht denken Sie auch, Sie hätten eine versteckte „dunkle Seite“ in Ihnen, die sich durch ihre Zwangsgedanken immer wieder auf sich aufmerksam macht. Wie bereits beschrieben haben nahezu alle Menschen Gedanken dieser Art. Ihre Gedanken machen sich daher weder zu einem besseren noch zu einem schlechteren Menschen.
Der Unterschied zu Nicht-Betroffenen ist, dass Sie ihren Gedanken eine Bedeutung beimisst – beispielsweise indem Sie die Befürchtung haben, sie würden etwas über ihren Charakter aussagen. Vermutlich ist aber eher das Gegenteil wahr: Zwangsgedanken drehen sich meist um Themen, die einem besonders wichtig sind oder die man als besonders abstoßend erachtet. Vermutlich sind Sie ein Mensch, der Gewalt gegen Unschuldige zutiefst ablehnt und ihnen daher solche Gedanken große Angst machen. Zwangsgedanken sind das Gegenteil dessen, über das wir eigentlich nachdenken wollen und sie drehen sich um das Gegenteil ihrer Werte.
Der Grund, weswegen sich ihr Kopf ständig um ihre Gedanken kreist, ist ihr Schwarz-Weiß-Denken. Sie befürchten, dass solange Sie diese Gedanken im Kopf haben, Sie auf einer Stufe sind mit einem verurteilten Mörder, der seine Tat wirklich ausgeführt hat. Hingegen wünschen Sie sich, dass ihre Gedanken und Befürchtungen gar nicht da wären und im Einklang mit ihrer tatsächlichen Schuldfreiheit stünden. Die Wahrheit liegt vermutlich in der Mitte: In Realität sind Sie vermutlich weder Mutter Theresa noch ein Serienmörder. Diese Realität gilt es zu akzeptieren.
Meine Empfehlung: Akzeptieren Sie, dass ihre Gedanken und Impulse vorhanden sind und jede Bedeutung haben könnten. Kämpfen Sie nicht gegen sie an und versuche nicht, sie aufzulösen.
Akzeptieren Sie ihre Gefühle
Wenn Sie aggressive Zwangsgedanken haben, haben Sie vermutlich mit einer Vielzahl von negativen Emotionen zu tun: Sie fühlen sich angespannt und ängstlich, weil Sie nicht wissen, was diese Gedanken bedeuten und Sie fühlen Schuld und Scham für ihre Gedanken. Diese Emotionen sind für Sie kaum auszuhalten, weswegen Sie versuchen, sie mit den oben genannten problematischen Bewältigungsstrategien loszuwerden oder zu vermeiden. Das Problem dabei ist: Gefühle können von uns Menschen nicht direkt beeinflusst werden. Zur Überwindung ihres Zwangs ist es daher hilfreich, sich auf die Dinge zu konzentrieren, die man beeinflussen kann. Wie Bewältigungsstrategien zu erlernen.
Meine Empfehlung: Akzeptieren Sie ihre Emotionen wie sie sind und versuchen nicht, sie zu verändern oder loszuwerden.
Erkennen Sie, dass Sie ihre Gefühle fehlleiten können
„Es fühlt sich so an, also muss es wahr sein.“ Wenn Sie das denken, dann ist es gut möglich, dass Sie ihre Emotionen fehlleiten – man spricht hier von emotionaler Beweisführung. Die korrigierte Version müsste heißen: „Es fühlt sich so an, also kann es wahr sein“. Unsere Emotionen sind nur eins der vielen Signale, die wir Menschen in unserer Entscheidungsfindung berücksichtigen – neben beispielsweise unserem eigenen Verstand und allen anderen Sinnen.
Gefühle schlagen gelegentlich falschen Alarm und bei Betroffenen von Zwangsstörungen sind diese Fehlsignale ein integraler Teil der Symptomatik. Ihr Zwang will Sie vielleicht einreden, schuld zu sein oder Angst haben zu müssen. Vielleicht haben Sie auch ein zweifelbehaftetes Gefühl der Ungewissheit. Es kann aber sein, dass ihre Emotionen keinerlei Bedeutung haben.
Meine Empfehlung: Akzeptieren Sie, dass Emotionen Fehlsignale sein können – erst recht, wenn Sie sie auf gedanklicher Ebene nicht nachvollziehen können.
Hinweise zu Fehlbewertungen und kognitiven Strategien
Die bisherigen Empfehlungen oder Tipps haben offengelegt, welche Denkfehler ihre Zwangsgedanken unterstützt haben. Die Erkenntnis dieser Denkfehler hat ihren Zwangsgedanken wahrscheinlich bereits etwas Wind aus den Segeln genommen und meine Empfehlungen haben Ihnen eine erste Richtung gezeigt, in die sich ihre Einstellung verändern sollten, wenn Sie ihren Zwang überwinden wollen.
Im Mittelpunkt dieser neuen, gesünderen Einstellung steht die Akzeptanz der Ungewissheit ihrer zwanghaften Befürchtungen, ihrer Gefühle und ihrer Zwangsgedanken. Natürlich sind Sie nicht so naiv und behaupten, diese Akzeptanz wäre leicht zu erreichen. Aber sie ist notwendig, damit Sie sich langfristig von ihrem Zwang befreien können.
Zuletzt würde ich Ihnen folgenden Hinweis geben, der vielleicht etwas paradox wirken kann: Alle bisher vorgestellten Strategien sollten nie mit der Absicht verwendet werden, Sie in absoluter Gewissheit zu wiegen. Jeder Versuch, eine absolute Gewissheit herzustellen, ist eine (mentale) Zwangshandlung, die niemals ihr Ziel erreichen wird. Verwenden Sie die Tipps daher nicht, um ihre Gefühle oder Gedanken aufzulösen. Die Aufdeckung ihrer Fehlbewertung dient in erster Linie dem Ziel, Ihnen klarzumachen, dass sich ihr Denken und ihre Gefühle von der Realität abgekoppelt haben und dass Sie sich nicht noch weiter in ihnen verstricken sollten. Im Zweifel hilft folgender Test: Verwenden Sie eine der genannten Strategien, um Gewissheit herzustellen oder verwenden Sie sie, um Ungewissheit zu akzeptieren. Eine Strategie ist nur dann hilfreich, wenn es Ihnen hilft, Ungewissheit zu akzeptieren und sich ihren Ängsten zu stellen.
Möglichkeiten zur Behandlung
Ich hoffe, dass ich in diesem Artikel einige hilfreiche Strategien gegen ihre aggressiven Zwangsgedanken mitgeben konnte. Es ist aber völlig normal, dass Sie sich trotz dessen überfordert fühlen. Ich möchte Ihnen daher noch einige hilfreiche Möglichkeiten aufzeigen, die Ihnen beim Kampf gegen den Zwang unterstützen.
Selbsthilfebücher
Es gibt für aggressive Zwangsgedanken einige sehr hilfreiche Selbsthilfebücher. Auch dieser Artikel orientiert sich zum Teil daran. Für Zwangsgedanken empfehlen wir insbesondere die folgenden zwei Bücher:
- Tyrannen in meinem Kopf: Zwangsgedanken überwinden – Ein Selbsthilfeprogramm* (gibt es auch als Hörbuch*)
- Der Kobold im Kopf: Die Zähmung der Zwangsgedanken*
- OCD Land-App
Psychotherapie
Es ist völlig normal, dass Sie sich mit ihren Zwangsgedanken überfordert fühlen. Hier wurde ausreichend von Strategien gesprochen, nun ist es natürlich nicht einfach diese alleine durchzugehen und umsetzen. Der Austausch und begleiten eines Psychologen kann hierfür durchaus hilfreich sein. Der gesündere Umgang mit deinem Zwang erfordert, dich den Dingen zu stellen, die bis jetzt eine Anspannung in dir auslösen und die Dinge abzustellen, mit denen du versuchst, diese Anspannung abzubauen. Über die Zeit stellt sich ein Gewöhnungseffekt ein. Experten sprechen hier auch von „Habituation“. Die Kernaussage dieser effektiven und nachgewiesenen Strategie ist folgende: Je öfter und länger du dich deinen angstauslösenden Triggern stellst ohne Vermeidungen, Absicherungsstrategien oder Zwangshandlungen nachzugehen, desto stärker nimmt deine Angst gegenüber diesen Triggern langfristig ab. Ein Psychologe kann Sie bei der Therapie ihres Zwanges unterstützen und auf Auslöser hinweisen.
Selbsthilfegruppe
Mit einer Zwangserkrankung fühlt man sich oft alleine. Dabei gibt es alleine in Deutschland ca. 2 Millionen weitere Betroffene. Eine gute Anlaufstelle für den Austausch ist unser Instagram-Kanal. Neben zahlreichen Tipps und Tricks gegen Zwangsstörungen triffst du hier auf eine aktive Community, deren Mitglieder genau wissen, wie sich dein Leid anfühlt, die offen über ihre Schwierigkeiten sprechen und mit denen du in Kontakt treten kannst. Alternativ kannst du über eine Selbsthilfegruppe Kontakt zu anderen Betroffenen aufnehmen. Die Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen hilft dir bei der Suche nach Selbsthilfegruppen.
Wann Sie professionelle Hilfe in Anspruch nehmen sollten
Vielleicht haben Sie die Hoffnung, dass alleine die kognitiven Erkenntnisse bereits ausreichen, um ihre Anspannung aufzulösen. Leider ist es aber damit nicht getan. Die Verarbeitung ihrer Emotionen läuft in Gehirnarealen ab, die für ihr Bewusstsein nicht zugänglich sind – daher konnte Ihnen auch bisher keine Grübeleien und andere mentalen Zwangsgedanken helfen. Logische Erkenntnisse verändern keine Gefühle, aber sie helfen Ihnen, sich trotz ihrer belastenden Gefühle für die Akzeptanz von Ungewissheit und einen gesünderen Umgang mit ihrem Zwang zu entscheiden.
Haben Sie beispielsweise Angst, jemanden mit dem Messer zu erstechen, haben Sie vielleicht alle ihre Messer aus dem Haushalt verbannt. Wenn Sie Angst haben, mit dem Auto jemanden zu überfahren, hat ihr Zwang Sie vielleicht auch schon dazu gebracht, gar nicht mehr am Steuer zu sitzen. Oder falls Sie Angst haben, ihrem eigenen Kind Schaden zuzufügen, lässen Sie nur noch ihren Partner ihr Kind anfassen – aus Furcht Sie könnten ihm etwas antun.
Sollten Sie solche belastenden Zwangsgedanken und den Teufelskreis nicht unterbrechen können trotz den vorgestellten Strategien, dann sollten Sie sich Unterstützung holen.
Fazit: Darum sollten Sie unbedingt mit einem Experten reden!
Zwangsgedanken sind sehr zeitaufwändig und können viele Stunden am Tag in Anspruch nehmen. Dadurch kommt es zu einer deutlichen Abnahme der Leistungsfähigkeit und zu einem Rückzug aus dem Freundes- oder Familienleben. Meist sind sich die Betroffenen ihres Problems bewusst. Sie erleben die Zwangsgedanken als widersinnig (irrational), aber unkontrollierbar. Gerade weil sie dies erkennen, verheimlichen sie die Störung oft und suchen keinen Arzt auf („Der Arzt denkt sicher, ich bin verrückt“, „Wie soll ich das denn erklären, ich versteh es ja selbst nicht, warum ich das immer wieder tue“, „Ich schäme mich dafür, möchte das lieber niemandem erzählen“). So lebt die Mehrzahl der Betroffenen Jahre oder Jahrzehnte mit ihrer Erkrankung, ohne professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.
In Form der Kognitiven Verhaltenstherapie einschließlich Exposition und Reaktionsverhinderung gibt es allerdings erwiesenermaßen effektive Strategien, die Ihnen helfen, aus diesem Teufelskreis auszusteigen und einen neuen, gesünderen Umgang mit ihren Gedanken zu helfen. Diese Methoden sollten zu einem Teil ihres Alltags für ihr neues, gelasseneres Lebens werden. Dieses gelassenere Leben kommt aber nicht ohne einen Preis. Sich Expositionen zu stellen und die eigenen Zwangsgedanken und Vermeidungen zu unterlassen ist ein anstrengender und langwieriger Prozess. Ich hoffe aber dennoch, Sie in diesem Artikel motiviert zu haben, diesen Schritt zu gehen und Ungewissheit in ihrem Leben zu akzeptieren.
Ich hoffe, dass ich Ihnen eine gute Übersicht und viele hilfreiche Tipps gegen ihre aggressiven Zwangsgedanken vermitteln zu konnte. Zwänge können das eigene Leben erheblich einschränken – aber es gibt allen Grund zur Hoffnung. Weder sind Sie ein schlechter Mensch, noch geht von Ihnen eine Gefahr für die Menschheit aus. Was Sie vom Rest der Menschheit unterscheidet, ist, dass Sie durch eine Kombination aus biologischer Vorbelastung, ihren Lebenserfahrungen und etwas Pech in den Teufelskreis Zwang geraten sind, der ohne die richtigen Kenntnisse und Hilfe nur schwer zu durchbrechen ist.
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Die vorgeschlagenen Strategien werden Sie auch nicht sofort von ihrem Leid befreien. Sie vermitteln Ihnen eine langfristig gesündere Betrachtungsweise gegenüber ihren Zwangsgedanken und geben Ihnen Werkzeuge an die Hand, wie Sie diese gesündere Betrachtungsweise sowohl kognitiv als auch emotional in ihr Leben integrieren. Auf Sicht von Wochen und Monaten wird Ihnen von diesem neuen Umgang profitieren und ihre Zwangsgedanken und ihre Anspannung werden beginnen, nachzulassen. Kurzfristig werden sich ihre Anspannung jedoch aufgrund der Aufgabe von Zwangsgedanken und Vermeidungen und ausgelöst durch die Expositionen vermutlich erhöhen. Dieser Prozess ist normal und muss therapeutisch begleitet werden.
Zur Überwindung deiner Zwangsgedanken ist es daher notwendig, dass Sie kontinuierlich am Ball bleiben und dass diese Strategien ein Teil ihres Alltags wird. Es ist hier wie bei der Ernährung: Eine Blitzdiät bringt kurzfristig viel, aber mittelfristig werden Sie Opfer vom Jojo-Effekt. Erst ein nachhaltiger Umstieg auf eine gesündere Ernährung führt zur langfristigen Gewichtabnahme. Genauso verhält es sich auch mit ihren Zwangsgedanken.
Betroffene mit aggressivem Zwangsgedanken sollten unbedingt professionelle Hilfe eines Psychologen in Anspruch nehmen. Zwangspatienten können dem Teufelskreis in der Regel nicht allein entrinnen, Verheimlichungen verschlimmern das Leiden noch. Den Betroffenen kann mit entsprechender Behandlung geholfen und ein großes Stück Lebensqualität zurückgegeben werden.
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